Ansprache zum Volkstrauertag und Totensonntag in Filderstadt 2021

Da durch die angespannte Corona-Lage die Präsenz-Feier zum Volkstrauertag leider abgesagt werden musste, wollen wir diese Stelle hier nutzen, um auf digitale Weise das Gedenken zu ermöglichen:

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Rattenfänger gibt es nicht nur im Märchen. Menschen, die andere mit verlockenden Flötentönen locken. Nicht Halbwüchsige oder Kinder, sondern solche die sich erwachsen nennen. Aus Rache, weil sie sich betrogen fühlen, es muss ja nicht deshalb sein, weil sie eine Stadt von Ratten und Mäusen befreit haben.

Rattenfänger heute haben andere Motive. Ihre Flötentöne haben einen anderen Klang. Mit derselben Wirkung. Sie lullen mit einfachen Lösungen ein auf Fragen, die vielschichtig sind und komplex. Sie tun so, als ob sie des Volkes Stimme wären, Ausdruck eines behaupteten gesunden Menschenverstandes – im Kampf gegen das verdorben-verderbliche Establishment, pauschal und anonyme auch „die da oben“ genannt, nicht selten auch als Diktatur gebrandmarkt, auch wenn es sich um gewählte Vertreterinnen und Vertreter einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung handelt. Und wenn auch das nicht mehr hilft, werden faszinierende, aber haltlose Verschwörungsmythen gestrickt, die jeder Glaubwürdigkeit und Realität entbehren. Ganz zu schweigen von der letzten Stufe von Rattenfängerei, die Fratzen überzeichneter Feindbilder, die anderen nicht nur das Recht auf eine eigene Meinung, sondern nicht selten auch das Lebensrecht verweigern.

Feindbilder, Verschwörungsmythen, der Anspruch, die Stimme des Volkes, des angeblich gesunden Menschenverstands zu sein – das ist eine der Ursachen, weshalb wir hier und heute Menschen gedenken, die hier geboren wurden und gelebt haben, die in den Krieg ziehen mussten und nicht mehr nach Hause zurückgekehrt sind.

-Feindbilder, Verschwörungsmythen, der Anspruch, die Stimme des Volkes, des angeblich gesunden Menschenverstands zu sein – das ist eine der Ursachen, weshalb wir hier und heute Menschen gedenken, die unter den grausamen Folgen von Hass und Hetze, Gewalt und Krieg gelitten haben, die geliebte Angehörige, ihr Hab und Gut, ihr Leben verloren haben, die Vertreibung und Flucht erleiden mussten, unsagbar-unsägliches Leid, das bei nicht wenigen bis heute wirkt.

-Feindbilder, Verschwörungsmythen, der Anspruch, die Stimme des Volkes, des angeblich gesunden Menschenverstands zu sein – das ist eine der Ursachen, weshalb wir hier und heute Menschen gedenken, die aufgrund von Herkunft, Glaubensüberzeugung, Lebensstil, politischem Engagement, körperlicher oder seelischer Beeinträchtigung ausgegrenzt, ihrer Würde und ihres Lebens beraubt wurden.

Feindbilder, Verschwörungsmythen, der Anspruch, die Stimme des Volkes, des angeblich gesunden Menschenverstands zu sein – all dies ist bis heute nicht verschwunden, hierzulande nicht und erst recht nicht weltweit. Im Gegenteil: Der Eindruck trügt gewiss nicht, dass all dies gegenwärtige neue Attraktivität gewinnt.

In einer Welt, die globaler geworden ist und vernetzt, in einer Lebenswirklichkeit, die immer unüberschaubarer wird und komplex, in der es mehr Fragen als Antworten zu geben scheint, in der Gewissheiten, Orientierungsmarken immer ungewisser werden – ist es da verwunderlich, dass sich Menschen nach verlässlichen Geländern sehen, nach einfachen und schnellen Antworten, nach Identität und Beheimatung, nach Orientierung, die das Leben überschaubar macht und gewiss? Und ist es da verwunderlich, dass manche sich nach einer angeblich guten Zeit sehnen, in denen die Welt angeblich in Ordnung war, was immer das heißen mag.

Rattenfänger haben heutzutage gute Chancen. Deshalb ist die Erinnerung so wichtig:

-die Erinnerung an einen Nationalismus, der sich über andere Nationen stellte und deshalb versuchte, sich ihrer Länder zu bemächtigen,

-die Erinnerung an ein Menschenbild, das eine Herrenrasse definierte, das lebenswertes und lebensunwertes Leben unterschied, und dies als Rechtfertigung nahm, über das Recht von Menschenleben zu entscheiden,

-die Erinnerung an ein Säbelrasseln, das sich selbst zum Maß aller Dinge machte, andere als scheinbar minderwertig überfiel, um neuen Lebensraum für angeblich höherwertige Menschen zu erobern.

Ja, es ist gut, eine Heimat zu haben und sich an einem vertrauten Ort, zuhause zu wissen. Aber gilt das dann nicht auch für andere?

Ja, es ist wichtig zu wissen, dass mein Leben, wie auch immer es sein mag, Wert und Würde hat, die ich mir nicht verdienen muss. Aber gilt das dann nicht auch für alle anderen?

Ja, es ist wichtig zu wissen, dass Gemeinschaft mit Menschen wichtig ist, mit denen ich vertraut bin, deren Werte ich teile, bei denen ich sein kann, wie ich bin. Aber gibt mir dies das Recht, Menschen, die andere Überzeugungen und andere Herkunft haben, auszugrenzen oder abzuwerten?

Der Blick zurück, die Erinnerung an die Schrecken der beiden Weltkriege erinnert uns daran:

-wozu Überheblichkeit, Arroganz der Macht, Ausgrenzung, Bewertung von Leben, Gewalt, Verletzung der Menschenwürde, Tötung und Vertreibung führen. Erinnern wir uns daran, wenn es um Fragen geht, die uns hier und heute beschäftigen.

Die Namen der Getöteten auf den Gedenktafeln, die Zeugnisse der Überlebenden aus beiden Weltkriegen, sie mahnen uns:

-Vergesst nicht, wie viel Leid Menschen durch Rattenfänger erlebt und erlitten haben, deren Flötentöne sich in Kanonendonner, in Schmerzensschreie, Totenstille, in fassungslosen Schrecken, in das Pfeifen von Bomben und das Knistern von Feuer verwandelt haben.

Das Gedenken des Volkstrauertages, es gibt den Getöteten, den an Leib und Seele Verletzten, den aus ihrer Heimat Vertriebenen, den Entrechteten und Verfolgten, den Hinterbliebenen Raum und Stimme, die uns zu bedenken gibt:

Wehret den Anfängen – auch heute! Geht gut miteinander um – mit allen Menschen. Achtet ihre Würde und grenzt nicht aus. Folgt nicht den Rattenfängern, den Verschwörungsmythen, den verlockend einfachen Antworten – sie sind nicht tragfähig, sie führen buchstäblich ins Nichts!

Deshalb, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

deshalb ist der heutige Tag, der Volkstrauertag alles andere als geschichtlich überholt.

-Wer Vergangenes vergessen machen will, wird gegenwartsversessen, überhebt sich über das, was war, überzeugt davon, dass nur das Hier und Heute zählt.

-Wer sich dem schmerzlichen Blick zurück verwehrt, wer die Vergangenheit ausblendet, lässt sich leicht durch die Gegenwart blenden, durch die Verheißung einer besseren Welt oder das Trugbild, dass früher immer alles besser war.

-Wer nicht mehr erinnern, sich erinnern lassen will, läuft Gefahr, Rattenfängern anheim zu fallen, die Vergangenes verklären, Gegenwart beschönigen und eine falsche Zukunft vorzugauckeln versuchen.

Deshalb ist das Erinnern an einem Tag wie heute wichtig:

-damit den Millionen von Getöteten, Verfolgten, Vertriebenen und Geschädigten nicht neues Unrecht geschieht,

-damit Anfängen gewehrt wird, die Mord, Verfolgung, Vertreibung und Schädigung verharmlosen und so tun, als hätte es dies nie gegeben,

-damit wir alle wachsam sind und bleiben, wenn auch hierzulande Mord, Hetzjagd und Schädigung von Menschen geschieht, die angeblich nicht zu dieser Gesellschaft gehören und

-damit wir bei uns, in unsren Familien, in Harthausen, in Filderstadt, wo auch immer wir sind, versöhnend als Friedensstifter, Friedensstifterinnen wirken, die Mord und Hetze wehren, Ausgrenzung und Schädigung entschieden entgegentreten.

Nicht von ungefähr findet das Erinnern in vielen Gemeinden auf dem Friedhof statt. Weil der Friedhof nicht nur der Ort des letzten Friedens sein soll und darf. Sondern ein Ort, von dem Frieden ausgeht, weil der Friedhof – so die christlich  Hoffnung – ein Garten des Lebens ist, der uns vor Augen hält.

-Ja, es gibt tiefstes Leid in dieser Welt. Und wir Menschen werden aneinander schuldig.

-Ja, es gibt den Tod, den schmerzlichen Verlust von Menschen, die wir vermissen.

Aber es gibt mehr als das:

-Es gibt einen, der Himmel und Erde und Menschen miteinander verbindet: der eine Balken des Kreuzes weist den Horizont des Miteinanders rechts und links, und der andere die Verbundenheit zwischen Himmel und Erde.

-Es gibt einen, der verbindet, der buchstäblich Mit-Leid hat bei all dem vielen Leid, der mitleidet und selbst den Tod erlitten hat.

-Und dieses Verbindungs- und Versöhnungszeichen Kreuz ist, so wichtig es ist, nicht das Letzte. Der Ort der erfüllten Auferstehungshoffnung war und ist ein Garten, das Symbol des Lebens.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

nicht von ungefähr steht an vielen Gräbern das Symbol des Kreuzes. Und nicht von ungefähr ist es das Symbol dafür, dass ein Leben zu Ende gegangen ist. Ein wichtiges Zeichen gerade auch an einem Tag wie heute, an dem viele Menschen verstorbener Angehöriger und lieb gewordener Menschen gedenken – auch solcher, die im zu Ende gehenden Jahr infolge des heimtückischen Virus namens Corona gestorben sind. Corona, ein Wort aus dem Lateinischen, auf Deutsch „Krone, Kranz“.

Beides, das Symbol des Kreuzes, aber auch das Symbol des Kranzes weisen – so unverständlich das klingen mag – über die Gegenwart des Todes hinaus. Sie erinnern auch an den Sieg des Lebens, den kein Tod unsrer Hoffnung nehmen kann.

Lassen Sie uns deshalb aus dem Erinnern Taten machen: Zeichen von Frieden und Versöhnung, Zeichen der Hoffnung und Verbundenheit über das hinweg, was unterscheiden oder trennen mag.

Lassen Sie uns aus dem Erinnern Hoffnung schöpfen, dass sich nicht wiederholen muss, woran wir heute erinnern müssen. Weil wir entschieden allen Anfängen wehren, die das Miteinander zu einem Gegeneinander werden lässt.

Lassen Sie uns aus der Erinnerung heute, hier auf dem Friedhof, die Zuversicht des Lebensgartens mitnehmen, dass das Grauenvolle nicht das letzte Wort behält.

Im Namen der Verwaltungsspitze und des Gemeinderates danke ich Ihnen herzlich für alle Schritte des Miteinanders und Aufeinander zu. Denn, so eine Liedstrophe, die Hoffnung macht: „Viele kleine Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Schritte tun, können das Gesicht der verändern, können nur zusammen das Leben bestehn“. Und nicht von ungefähr schließt das Lied mit der Bitte: „Gottes Segen soll sie begleiten, wenn sie ihre Wege gehen“.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Stefan Hermann, zum 14.11.2021