Volkstrauertag 2022 – Mut zu Grundwerten und Menschenrechten

Auszug aus der Ansprache zum Volkstrauertag 2022 in Filderstadt-Harthausen von Stefan Hermann, Vorsitzender Freie Wähler Fraktion im Gemeinderat Filderstadt

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

-wer hätte gedacht, dass wir wieder einmal der Toten zweier Weltkriege gedenken und eine unsrer Partnerstädte, Poltawa, ist von einem unmenschlichen Krieg betroffen.

-Wer hätte gedacht, dass wir an einem Tag wie heute entschieden für Frieden- und Menschenrechte eintreten müssen, wo ein Gewaltherrscher ein souveränes Land mit Krieg, Terror, Verwüstungen und Folter überzieht, ein fernöstlicher Despot einen ehemaligen Mitstreiter auf offener Bühne entfernen lässt und einem Nachbarland genauso offen mit kriegerischer Annexion droht.

-Wer hätte gedacht, dass in unserem Land politische Rattenfänger offensichtlich zunehmend Erfolg haben, die vorgeben, auf komplexe Fragen einfache Antworten geben zu können, und damit doch Wasser auf ihre Mühlen ewiggestriger Ideen zu leiten.

Und wer kann ungerührt zusehen, wie im 21. Jahrhundert Frauen im Iran um die einfachsten Grundrechte kämpfen müssen und eine religiöse Tyrannei Landsleute aufs Schlimmste schikaniert, demütigt und tötet.

Geschichtsvergessenheit fördert Machtversessenheit. Und Machtversessenheit setzt auf Geschichtsvergessenheit. Wer nur im hier und heute lebt, macht sich zu Unrecht größer, als er denkt, weil er bewusst vergisst, warum geworden ist, was ist. Und wer Vergangenheit mit rosaroter Brille verklärt, läuft Gefahr, zu übersehen, dass Vergangenheit auch dazu dient, Fehler für die Gegenwart und Zukunft zu vermeiden.

Der Rückblick an einem Tag wie heute ist nicht um des Rückblicks willen wichtig, sondern um aus dem unsäglichen Leid so vieler Menschen durch die beiden Weltkriege die richtigen Schlüsse zu ziehen für die Gegenwart und Zukunft.

Die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte gilt für jeden Menschen. Die eigene Freiheit dort endet, wo sie die Freiheit anderer beschneidet oder gar verwehrt.

Freiheit ist und bleibt gefährdet, solange es Menschen gibt, die sich Freiheit nehmen und damit anderen Freiheit rauben. Unsre freiheitlich-demokratische Grundordnung ist keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil: Um ihre bleibende Geltung muss immer neu gerungen werden. Heute vielleicht dringlicher denn je seit Bestehen unsrer Republik.

Der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst Wilhelm Böckenförde hat nicht von ungefähr gemahnt: „Der freiheitlich-demokratische Staat lebt von Voraussetzungen, die er sich selbst nicht geben kann“. Deshalb ist das Engagement von Bürgerinnen und Bürgern, von Vereinen, Kirchen, Verbänden so wichtig, damit Werte gelebt werden und erlebbar und damit unser Gemeinwesen gestaltet. Ja, es gibt sie auch in Filderstadt, die stillen Heldinnen und Helden. Und ich bitte Sie, solche Personen bei der Bürgerstiftung bekannt zu machen, die entsprechendes Engagement auszeichnet. Denn solche Vorbilder müssen öffentlich gemacht und gewürdigt werden.

Die Wahrung von Menschenrechten muss immer neu eingefordert werden und das entschiedene Eintreten für sie, wenn sie durch welche falschen Ideen auch immer eingeschränkt werden. Auch hierzulande.

Freiheit, freiheitlich-demokratische Grundordnung, Menschenrechte – dieser harmonische Dreiklang geht uns alle an:

-in dem, wie wir uns dazu verhalten und dafür eintreten im Großen wie im Kleinen,

-in dem, wie wir als einzelne oder als Land unsrer Wirtschaftsbeziehungen gestalten und dabei auch in Kauf nehmen, Wohlstand einzubüßen,

-in dem, wie ernst wir die Folgen des Klimawandels nehmen, der nicht nur hier in Filderstadt oder hierzulande, sondern weltweit vielfache schreckliche Folgen hat.

„Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung“ – ein zweiter Dreiklang, der mit der Erinnerung an einem Tag wie heute verbunden sind und weit darüber hinaus.

-Wer tatenlos zulässt, dass die Infrastruktur eines Landes zerbombt wird, dass Menschen in ihrem alltäglichen Leben von Angst ums Überleben behaftet sind,

-wer folgenlos hinnimmt, dass Gewaltherrscher Menschen um ihres Geschlechts, ihrer Überzeugung oder Nationalität willen der Freiheit berauben oder das Lebensrecht absprechen

-wer einfach hinnimmt, dass die Lebensgrundlage von Menschen dadurch immer mehr zerstört werden, dass wir zu wenig gegen die Ursachen und Folgen des Klimawandels tun,

-wer nicht das Wort erhebt und die freiheitlich-demokratischen Werte gegen Hass, Propaganda und Rattenfängertum verteidigt,

der macht sich mitschuldig an dem vielen Leid der Welt. Volkstrauertag ist nicht an einem Tag im Jahr, sondern alle Tage des Jahres.

Und wer sich dann noch wundert, dass Menschen um des nackten Überlebens, aus Sehnsucht nach Frieden bei uns Zuflucht suchen oder weil sie – wie so oft in der Geschichte – ihrer Heimat beraubt und aus ihr vertrieben wurden, der wird mit Entschiedenheit falschen Stimmen wehren, die immer lauter zu werden drohen, dass an erster Stelle immer das eigene Land und sein Wohlergehen stehe – alles andere als eine wirkliche Alternative für unser Land.

Ja, wir können etwas tun – für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Unzählige Bürgerinnen und Bürger zeigen dies Tag für Tag.

Frieden darf nicht Frieden sein bis zum nächsten Krieg, sondern kann Frieden bleiben, wenn wir Frieden üben und verteidigen. Menschenrechte dürfen nicht nur für sich in Anspruch genommen werden, sondern gelten immer auch anderen, die anders sind als wir. Die Entstehung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unsres Landes hat so viel Blut und Tränen gekostet, dass sie nicht leichtfertig auf Spiel gesetzt werden darf.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

der Volkstrauertag und das Totengedenken in diesem Jahr ist nicht wie an den Jahren davor. Wir leben in einer Zeit, mit deren Wiederkehr wohl nur die wenigsten gerechnet hatten. Die Folgen treffen uns alle – Energiekrise, Inflation und Klimakrise machen vor unseren Haustüren nicht Halt. Und die Zahl der Geflüchteten ist auf einem nie dagewesenen Höchststand – auch hier in Filderstadt. Die soziale Schere immer weiter und immer mehr Menschen scheinen die Hoffnung zu verlieren, dass dies alles zu bewältigen ist.

Umso wichtiger zeigt unser heutiges Erinnern: Nichts muss so schrecklich bleiben, wie es war und ist. Man kann aus den Schrecken lernen. Was ist doch aus unserem Land seit dem Ende des zweiten Weltkrieges geworden:

-eine freiheitliche Demokratie, ein Land, dem der soziale Zusammenhalt wichtig ist, auch wenn er immer neu errungen werden muss

-ein Land, in dem Frieden und Freiheit ganz oben stehen, und das derzeit neu entdeckt, wie Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung ineinandergreifen.

Und auch wenn uns die derzeitigen Krisen vor immense Herausforderungen stellen – Verantwortliche auch in den Kommunalpolitik stehen vor Herausforderungen, deren gleichzeitige Bewältigung schier unmöglich scheint – weist der Blick auf den Weg aus der schrecklichen Vergangenheit darauf, dass auch Gegenwart und Zukunft gut gestaltbar und bewältigbar sind. Und nicht zuletzt zeigt der Hinweis auf Gott in der Verfassung, dass wir bei allem nicht uns selbst überlassen sind und all die Schrecken des Todes nicht endgültig sind.

Ich danke Ihnen allen, für Ihr Engagement für „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“, für Ihre Eintreten für „Freiheit, unsere freiheitlich demokratische Grundordnung und die Menschenrechte aller Menschen“. Auch der kleinste Schritt, auch der kleinste Beitrag dazu ist ein wichtiges Hoffnungszeichen – im Großen wie im Kleinen, in Filderstadt und darüber hinaus.

Das ist die Botschaft eines Tages wie heute – ein Tag, der eigentlich alle Tage ist.

Stefan Hermann, Vorsitzernder Freie Wähler Fraktion Gemeinderat Filderstadt